H. Kanyar Becker (Hrsg.): Vergessene Frauen

Cover
Titel
Vergessene Frauen. Humanitäre Kinderhilfe und offizielle Flüchtlingspolitik 1917-1948


Herausgeber
Kanyar Becker, Helena
Reihe
Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft (BBG) 182
Erschienen
Basel 2010: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gerrendina Gerber-Visser, Hist. Institut, Abt. Schweizergeschichte, Universität Bern

Heute fast «vergessene Frauen» holten im Ersten Weltkrieg Kinder aus Kriegsgebieten in den sogenannten Kinderzügen zur Erholung in die Schweiz, betreuten während des spanischen Bürgerkriegs Flüchtlingskinder und deren Eltern, leiteten während des Zweiten Weltkriegs Kinderkolonien und arbeiteten in Flüchtlingslagern oder gründeten eine improvisierte Maternité in Frankreich. Und sie halfen unter höchster persönlicher Gefahr bei illegalen Grenzübertritten von Jugendlichen in die Schweiz.

Die Rolle der humanitären Hilfe der Schweiz während der Zeit des Nationalsozialismus wurde bereits 1999 von Antonia Schmidlin1 aufgearbeitet. Das neue Buch Kanyar Beckers deckt einen grösseren Zeitraum ab und es stehen weniger die Institutionen als die Akteurinnen im Zentrum. Unter ihnen sind Vertreterinnen der typisch weiblichen Berufe wie Krankenschwestern, aber auch Akademikerinnen zu finden. Einige von ihnen waren Vorkämpferinnen für die politische Gleichberechtigung der Frau in der Schweiz. Sie sahen in ihrer Mitarbeit in Kommissionen der Hilfswerke eine Möglichkeit, zumindest in diesem Bereich Einfluss zu nehmen. Immer wieder begegnet man während der Lektüre den Beschränkungen des Schweizerischen Roten Kreuzes SRK, das wohl in Frankreich wertvolle Hilfe leistete, zugleich aber an seiner strikten Neutralität festhielt und sich deshalb von jenen Helferinnen, die jüdischen Verfolgten zur Flucht in die Schweiz verhalfen, distanzierte, sie verwarnte und sogar entliess. Zugleich verweist das Buch auf die problematische Haltung der offiziellen Schweiz, die seit 1942 nur noch politische Flüchtlinge, nicht jedoch aufgrund ihrer Rasse Verfolgte aufnahm. Diese Politik hatte zur Folge, dass die Fluchthelferinnen nicht nur auf dem Gebiet des besetzten Frankreichs, sondern auch, wenn sie bereits auf schweizerischem Territorium waren, illegal handelten, und dass die Flüchtlinge im Grenzgebiet immer noch von der Rückschaffung bedroht waren.

Die Protagonistinnen stammten aus verschiedenen Gegenden der Schweiz: Mathilde Paravicini (1875 –1954), die Pionierin der Kinderzüge, war Baslerin, die Leiterin des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks (SAH) Regina Fuchs-Kägin (1889 –1972) wuchs in Zürich auf, Elsie Ruth (1909 –2005), die mutige Mitarbeiterin des SRK in Frankreich, stammte aus St. Gallen. Insgesamt werden vierzehn Frauen und ihre spezifischen Einsätze beschrieben. Es sind dies ausser den bereits genannten noch: Nettie Sutro (1889 –1967), Georgine Gerhard (1886 –1971), Ruth von Wild (1912 –1983), Elisabeth Eidenbenz (1913), Rösli Näf (1911–1996), Renée Farny (1919 –1979), Germaine Hommel (1893 –1982), Friedel Bohny-Reiter (1912–2001) und Emma Ott (1907) sowie zwei Bernerinnen, Elsbeth Kasser (1910 –1992) und Anne-Marie Im Hof-Piguet (1916 –2010). Die Geschichten dieser beiden Berner Frauen seien hier exemplarisch kurz geschildert.

Elsbeth Kasser war die Tochter des Pfarrers von Niederscherli. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Krankenpflegerin und eine Zusatzausbildung zur Pflege von Typhuskranken. Durch die Bekanntschaft mit Regina Fuchs-Kägin auf die Einsätze in Spanien aufmerksam geworden, übernahm sie einen Einsatz in Spanien, vorerst in Katalonien. Dort schloss sie sich der Ayuda Suiza an und arbeitete später auch in Madrid. Nach Ende des spanischen Bürgerkriegs kehrte sie vorerst in die Schweiz zurück, trat dem Frauenhilfsdienst FHD bei und nahm an dem schweizerischen medizinischen Hilfseinsatz in Finnland (1940) teil. Im Sommer 1940 ging sie für die schweizerische Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder (SAK) nach Frankreich und arbeitete im Flüchtlingslager Gurs in Südfrankreich, wo unbeschreibliches Elend herrschte. Sie litt mit den übrigen Helferinnen unter der unsagbaren Last, die Deportationen der jüdischen Flüchtlinge miterleben zu müssen. Nach dem Tod ihres Vaters kehrte sie 1943 in die Schweiz zurück und arbeitete als Inspektorin in Schweizer Flüchtlingslagern. Im Herbst 1944 beteiligte sie sich an der Evakuierung von Kindern aus Frankreich, unter äusserst schwierigen und gefährlichen Bedingungen. Sie blieb auch nach dem Krieg ihrem Engagement für die Mitmenschen treu. Sie erhielt 1947 in Wien die Florence-Nightingale-Medaille in Anerkennung ihrer Verdienste.

Die Historikerin Anne-Marie Im Hof-Piguet war nicht gebürtige Bernerin, sie stammte aus dem Waadtländer Jura. Nach Bern gelangte sie durch ihre Heirat mit dem Historiker Ulrich Im Hof. Als junge Frau, nach Abschluss ihres Geschichtsstudiums in Lausanne 1940, entschloss sie sich für das SRK zu arbeiten. Sie arbeitete zunächst in Montluel (bei Lyon), wo sie für die Beschaffung von Nahrungsmitteln zuständig war, dann in der Administration in Toulouse und später in der Kinderkolonie La Hille bei Toulouse. Dort wurde sie mit dem Schicksal der jüdischen Flüchtlinge und den Deportationen konfrontiert und erlebte auch die Entlassung Rösli Näfs, der Leiterin der Kinderkolonie, wegen deren Hilfe bei illegalen Grenzübertritten von verfolgten jüdischen Jugendlichen. Während eines kurzen Aufenthalts bei ihren Eltern in der Schweiz bereitete sie nun ihrerseits einen Plan für illegale Grenzübertritte vor. Auf diesem neuen Fluchtweg konnten insgesamt neun Personen gerettet werden. Anne-Marie Im Hof-Piguet hat 1985 ihre Memoiren veröffentlicht und damit eine Kontroverse über die Rolle des SRK während des Zweiten Weltkriegs ausgelöst. Sie wurde 1991 mit der Medaille Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet. Anne-Marie Im Hof-Piguet ist im Dezember letzten Jahres in Bern verstorben.

Eine Stärke dieses Buches liegt in der authentischen Berichterstattung, die aus persönlichen Briefen zitiert und teilweise auch die Methode der Oral History einbezieht, indem Teile aus aktuellen Interviews mit damaligen Akteurinnen, deren Verwandten und Betroffenen wiedergegeben werden. Gewisse Wiederholungen sind durch die sich teilweise überschneidenden Lebenswege der geschilderten Frauen an denselben Arbeitsorten respektive Institutionen bedingt. Neben Historikerinnen und einer Theologin haben auch zwei persönlich Betroffene im Autorenteam mitgearbeitet: Eine Autorin ist selbst eine Überlebende des Konzentrationslagers Gurs in Rivesaltes, ein Autor kam als Kind nach dem Zweiten Weltkrieg zur Erholung in die Schweiz.

Das mit einem Vorwort von Georg Kreis versehene Buch richtet sich nicht nur an das Fachpublikum, sondern auch an eine breitere Leserschaft und enthält zahlreiche zeitgenössische Fotografien. Es löst Betroffenheit aus und grossen Respekt vor dem Mut dieser engagierten Frauen. Der Sammelband liefert aber in erster Linie einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der humanitären Tradition der Schweiz und hinterfragt die offiziellen Haltungen aus der persönlichen Sicht von engagierten Helferinnen. Es ist nicht zuletzt deshalb in der heutigen Zeit, wo die Haltung des «vollen Bootes» sich wieder ausbreitet, höchst aktuell.

1 Schmidlin, Antonia: Eine andere Schweiz. Helferinnen, Kriegskinder und humanitäre Politik 1933 –1942. Zürich 1999.

Zitierweise:
Gerrendina Gerber-Visser: Rezension zu: Kanyar Becker, Helena (Hrsg.): Vergessene Frauen. Humanitäre Kinderhilfe und offizielle Flüchtlingspolitik 1917–1948. Basel, Schwabe 2010. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 73 Nr. 2, 2011, S. 45-48.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 73 Nr. 2, 2011, S. 45-48.

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